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Mézilhac (Steinbruch)
    • Cyanotypie auf Papier
    • Bildmass: 224 x 608 cm
    • Inv.-Nr. 8595
    • Aargauer Kunsthaus Aarau
    • © Künstlerin
    • Die Erde sei blau wie eine Orange. Dieses starke Bild hat uns Paul Éluard als Einstieg in eines der Gedichte seines 1929 erschienenen Lyrikbandes «L’amour la poésie» geschenkt. 1966 sollte André Pieyre de Mandiargues im Vorwort zu einer Neuauflage in der Metapher eine Vorwegnahme des Blicks auf unseren Planeten aus dem Weltall erkennen. Zwei Jahre später schoss William Anders auf dem Flug von Apollo 8 das berühmte erste Farbfoto der über dem Mondhorizont aufgehenden Erde. Seither hat das Bild der fragilen Schönheit von «Earthrise» viel Konkurrenz erhalten. Pausen- und lückenlos übermitteln heute Sonden und Satelliten eine Flut von am Boden wie im All entstehenden Abbildern der Welt und oft sind die Datenpakete dann nur noch einen URL-Klick von ihrer Weiterverbreitung entfernt.

      Auch in der umfangreichen Werkgruppe «Blue Links» von Daniela Keiser (*1963) funkeln blaue Orangen. Als «Orangenarchitekturen» präsentieren sie sich in Form von sorgsam aufgeschichteten Auslagen in unterschiedlichen Intensitäten von Cyanblau. Das Blau verdankt sich der von der Künstlerin gewählten alten fotografischen Technik der Cyanotypie, welche der britische Astronom John F. W. Herschel 1842 entdeckte und die auf der Oxydation einer fotosensiblen Eisensalzlösung unter Licht mit hohem UV-Anteil, also beispielsweise Sonnenlicht, beruht. Im selben Verfahren hat Keiser seit 2018 zahlreiche nächtliche Satellitenbilder der Erde, Sternennebel, vulkanische Strukturen, Wasserfälle und Gletscherzungen zu Papier gebracht. Auch ein Vertragswerk über die Nutzung des Weltraums, einen Farbindex für das grafische Gewerbe und Baupläne für Walzfräser, die Stollen in Felsen treiben und zugleich wie Raumschiffe aussehen, hat sie reproduziert. Entstanden ist ein Abriss der Evolutionsgeschichte von einer berückend halluzinatorischen Ästhetik, der archaische Kräfte und vom Menschen Erschlossenes gleichermassen vereint. Mitunter – etwa bei Wasserfällen, die über Basaltformationen hinabstürzen – verbinden sich einzelne Motive auch und deuten so an, wie Alles mit Allem zusammenhängt.

      Gruppiert hat Daniela Keiser die Aberhundert Cyanotypien zu 22 «Cyanocosmoi» und einer Anzahl eigenständig betitelter Serien. Ferner hat sie einige Bildreihen als grosse, vielteilige Panoramen realisiert. Zu diesen gehört auch «Mézilhac (Steinbruch)», die Ansicht einer Basaltwand in der Ardèche. Auf 32 losen Bögen mattem Büttenpapier gibt sie die markante Naturformation in einem nur schwer verortbaren Ausschnitt in fast natürlicher Grösse wieder. Hat sich das Auge halbwegs zurechtgefunden, fällt auf, dass die Felsstränge nicht mehr intakt sind, sondern Spuren menschlicher Abbauaktivitäten tragen. Im Vordergrund stapeln sich herausgebrochene Steine, gleich dahinter liegt ein Betonrohr. Ähnlichem Schicksal sahen sich bis zu ihrer Unterschutzstellung auch andere Basaltbrüche in der Umgebung sowie anderswo in Europa ausgesetzt. Eingang in Keisers Blaudruckzyklus haben namentlich die Basaltkuppe Panská skála im Norden Tschechiens und der berühmte Giant’s Causeway in Irland gefunden. In einer gleichzeitig angelaufenen Ausstellungstrilogie in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich, dem Dresdener Kupferstich-Kabinett und dem Ulster Museum in Belfast hat die Künstlerin diese drei geologischen Stätten im Frühling 2022 miteinander verlinkt. Dabei dienten ihr die in eher strukturschwachen Gegenden gelegenen Attraktionen überdies als Grenzmarken, um über die wirtschaftlich aktivste Zone Europas nachzusinnen – ein Bogen von London bis Mailand, der auch als Blaue Banane bekannt geworden ist. Wie Éluards blaue Orange als Bild einer erkalteten, einstmals feurigen Liebe erweist sich «Mézilhac (Steinbruch)» so in einem allumfassenden Denkvorgang als mehrfach deutbare Metapher. Symbolisch steht die Basaltwand einerseits für die elementaren Urkräfte aus der Tiefe der Zeit. Andererseits mahnt sie an die Geschichte der Ressourcengewinnung, an technischen Fortschritt und Kriterien der Wirtschaftlichkeit. In der Cyanotypie, der die magische Latenz fotografischer Bildwerdung ebenso sichtbar eingeschrieben ist wie der geologische Prozess dem Gestein, finden beide Seiten kongenial zusammen.

      Astrid Näff, 2023