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Jung75
    • Performance
    • Inv.-Nr. DS2836
    • Aargauer Kunsthaus Aarau / Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Bern
    • "Falls du zu dem Schluss gekommen bist, dass die Realität bessere Geschichten hervorbringt als die Fiktion, ruf an unter 077 505 03 62". Der Satz auf dem Ausstellungsposter verleitet mich nicht wirklich zum Handy zu greifen – ist nicht alles was vorstellbar ist, potentiell auch wahr und wirklich? Trotzdem überlege ich, die Nummer zu wählen. Ich möchte mehr wissen über diese Künstlerin, von der erzählt wird, sie habe im Circuit in Lausanne falsche Louis Vuitton Taschen verkauft, versucht, die Jury eines Kunstpreises zu bestechen oder ihr Pariser Ausstellungspublikum gekidnappt. Gedacht, getan. Das Setting hätte kurz bevor die Coronapandemie im Winter 2020 richtig in der Schweiz ankommt nicht passender sein können. Die Arbeiten von Florence Jung (*1986) im Helmhaus Zürich ähneln sozialen Experimenten. Ich erfahre wenig Persönliches über die Bieler Künstlerin, die weder Fotos von sich, noch von ihren Werken zirkulieren lässt. Auch von Jung53 gibt es keine Abbildung. Auflage 2 von 3 – "Florence Jung numbers her work but doesn't start at 1", ist das also wichtig? –befindet sich seit 2022 dank eines Depositums der Schweizerischen Eidgenossenschaft in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses. Als Werkbetrachtung muss an dieser Stelle deshalb ein Erfahrungsbericht genügen:

      Ich betrete eine Art Schleuse und erblicke eine angelehnte Tür mit robuster Klinke. Ich schaue mich um und sehe hinter mir in einer Deckenecke des weissen Vorzimmers eine Kamera: war die immer schon da? Ich gehe auf die Tür zu, versuche sie aufzustossen, doch etwas drückt dagegen. Ich bin verdutzt, gehe einen Schritt zurück und fasse nochmal Mut und dann erneut zur Klinke. Die weiche Schwere eines menschlichen Körpers stemmt wieder dagegen, lässt mich nicht eintreten. Zuletzt wird mir die Tür sogar vor der Nase zugeschlagen. Peinlich berührt schaue ich hoch zur Kamera – wurde dieses klägliche Versagen etwa auch noch für die Ewigkeit festgehalten? Ich fühle mich, als hätte ich trotz Spurt den Zug verpasst und während die Lichter der Automatiktüren noch blinken und die Abfahrt ankündigen, grinst mir jemand hinter der Glasscheibe des Wagenabteils frech in mein verschwitztes Gesicht.

      In Referenz auf die Kunsthistorikerin Claire Bishop liessen sich Jungs Arbeiten am ehesten als "delegated performance" bezeichnen. Jung53 wurde erstmals an den Swiss Art Awards 2017 installiert. Im darauffolgenden Jahr war das Werk an der Athen Biennale 2018 ANTI zu erleben. Es besteht aus einer Anweisung für ein reaktivierbares Szenario mit Tür und einer eigens für die Performance angestellten Person dahinter. Diese erhält den Auftrag, Besuchende nicht eintreten zu lassen. Wer dies unter Anwendung von Gewalt trotzdem schafft, wird mit dem Hinweis wieder aus dem Raum verwiesen, dass das System nicht durchbrochen, sondern derart konzipiert wurde, durchbrochen zu werden. "Alter Kunsttrick", denk ich mir. Sobald Illusionen zerplatzen, verweisen Werke auf sich selbst und ihr Gemacht-Sein.

      Woraus ist unser Handeln gemacht? – Um diese Frage kreist Florence Jungs Schaffen. Sie interessiert sich für Verhaltensformen, wie sie sich in den Körper einschreiben, spürbar werden, wodurch sie sich verändern und wie sie reglementiert sind. Weshalb reizt es mich, gerade diese Tür zu öffnen? Wessen Körper hindert mich daran? Wird die Künstlerin das Video von mir für eine andere Arbeit weiterverwenden? Indem Jung unsere Wahrnehmung von Kunst – Farben im Raum, oder wie wollt ihr Malerei beschreiben? – für Fiktionen öffnet, entstehen potentielle Wirklichkeiten. Sie beeinflussen nicht nur unsere Bewegungen in den jeweiligen Kunstorten, sondern verweisen auch auf weitere angelehnte Türen in unserem Alltag.

      Bassma El Adisey, 2023