Kunstschaffende in der Sammlung Online

Zurück

Detailansicht Werk

 Zurück

Resultate:  1

Suiza no existe
    • Öl auf Leinwand
    • Objektmass: 100 x 100 cm
    • Inv.-Nr. 5937
    • Aargauer Kunsthaus Aarau
    • © ProLitteris, Zürich (1992)
    • Mit einem wagemutigen Pavillon machte die Schweiz an der Weltausstellung von 1992 in Sevilla von sich reden. Aussergewöhnlich war nicht nur die Architektur mit dem skulpturalen, aus Recycling-Karton errichteten Turm. Unerwartet war auch der Inhalt, da man auf Vorgabe des Bundesrats und mit Billigung des Parlaments von der üblichen nationalen Leistungsschau absah. Zu entdecken gab es stattdessen eine unkonventionelle, teilweise selbstironische Schau, die fast ganz auf das zeitgenössische Kunst- und Kulturschaffen setzte, um so, wie erwünscht, ein unverbrauchtes, progressives Bild des Landes zu zeichnen.

      An dem erfrischenden Auftritt, der auf lustvolle, wenngleich etwas intellektuelle und daher als elitär kritisierte Weise mit allen Schweiz-Klischees brach, war auch der in Nizza lebende Fluxus-Vertreter Ben Vautier alias Ben (*1935) beteiligt. Eines der Schriftbilder, für die er seit den 1960er-Jahren bekannt ist, verlieh dem Unterfangen faktisch sogar sein Motto: "Suiza no existe" – die Schweiz gibt es nicht. Platziert war das unbequeme Werk bewusst direkt am Zugang zum Hauptraum. So erhitzte es prompt schon bald die Gemüter all jener, welche die Botschaft trotz Einstimmung durch die von Fabelwesen bevölkerte Eingangsrotunde wörtlich nahmen und nicht bereit waren, einen tieferen Sinn darin zu erkennen.

      Schon im Vorjahr hatte Ben eine fast doppelt so grosse, hochformatige Fassung in der von Harald Szeemann für das Kunsthaus Zürich konzipierten und später auch noch in Madrid und Düsseldorf Station machenden Ausstellung "Visionäre Schweiz" gezeigt. Sie vermeldete, inhaltlich identisch und ebenfalls auf schwarzem Grund: "La Suisse n’existe pas". Betonte man bei dieser Version den bestimmten Artikel, so schien dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass es die Schweiz als homogenes Gebilde nicht gebe. Der Akzent lag also nicht mehr auf der kompletten Verneinung, sondern auf der typisch eidgenössischen Vielfalt. Als Glosse zu einem Land, das gerade stolz seine 700-Jahr-Feier beging, brüskierte der Satz daher niemanden. Im Gegenteil: In dieser Lesart passte er bestens zum helvetischen Selbstverständnis, der glückliche Sonderfall eines Staates zu sein, der trotz seiner besonderen Sprachgeografie zu einer, in den Worten von Ernest Renan, allein durch Willen verbundenen Einheit zusammengefunden hat.

      Im Wegfallen des bestimmten Artikels im Spanischen fand sich das Statement dann aber noch einmal zugespitzt. Auch hing das Werk nicht isoliert an der Wand, sondern unter roten und bläulichen Neonlettern, die – scheinbar sachlich – topo- und demografische Eckdaten zur Schweiz vermittelten. Allerdings war die Konstellation, die mit dem Schriftzug "Suiza en el centro de Europa" begann, inmitten der Debatte um den im Herbst 1992 an der Urne bekanntlich hauchdünn abgelehnten EWR-Beitritt wohl nicht ganz ohne Zwischentöne, was Ben quasi zum Botschafter der Öffnung machte. Aus kuratorischer Sicht – auch die Schau in Sevilla hatte Harald Szeemann zusammengestellt – kam also die bereits im Vorgängerprojekt bekundete, nun aber gleichsam der ganzen Welt signalisierte Überzeugung hinzu, dass ein Land auch Vor- und Querdenker, Phantasten, Utopisten, Einzelgänger, Eskapisten, Gesamtkunstwer
      ker – kurz: Visionäre – braucht, um sich zu finden und um voranzukommen.
      Aus Bens Perspektive hiess dies, dass sprachlich-ethnische Kriterien für jede Nation zentral zu sein hätten. Geprägt durch seine kosmopolitische Kindheit und die Erfahrung, stets aufs Neue linguistische Barrieren überwinden zu müssen, postulierte er ein Schweiz- respektive Weltbild, dessen Grenzen zugunsten der sprachlichen Autonomie der Bevölkerungsgruppen neu zu ziehen seien. Wie dies aussehen könnte, reflektierte und propagierte er ab den 1980er Jahren immer wieder. So erschien 1986 als erster Meilenstein sein als Interview abgefasstes Pamphlet "La première Internationale ethniste". Später folgten unter anderem der "Atlas des futures nations du monde" (1988), "L'éthnisme de A à Z" (1991) und das 420 Seiten starke Schlüsselwerk "La clef" (1997): ein ethno-linguistischer Sammelband mit Analysen, Karten, theoretischen Texten und Vorschlägen zur Lösung der weltweiten ethnischen Konflikte.

      Dass es Ben also durchaus ernst war mit einer Neuordnung der Welt, ist die pikante Seite seines Beitrags. Nur wurden die wahren Beweggründe hinter dem gewollt provokativen Denkanstoss von den damaligen Kommentatoren – Befürwortern wie Gegnern – in der Regel ebenso übergangen wie das am Schluss des Rundgangs platzierte Ja zur Schweiz "Je pense donc je suisse". Den Kritikern blieb vergönnt, dass die Regierung auf entsprechende Interpellationen hin verfügte, es sei neben dem Werk eine Erklärung zur Vielfalt der Schweiz anzubringen. Die Visionäre wiederum dürfen konstatieren, dass viele der von Ben bereits mitgedachten Faktoren – Migration, Assimilierung und kulturelle Vermischung, aber auch postkoloniales Denken und eine rücksichtsvolle Minderheitenpolitik – in der Realität inzwischen aufgegangen sind.

      2003 konnten "Suiza no existe" und "Je pense donc je suisse" beim Berner Auktionshaus Kornfeld als Bildpaar erworben werden. Beide Werke tragen rückseitig längere Widmungen an den 2002 verstorbenen Adolf Burkhardt, der die Expo gemeinsam mit Szeemann konzipierte. Was Ben, der Bundesrat und die Schweizermacher von 1992 sich erhofften, also "die Koexistenz der verschiedenen kulturellen und sprachlichen Milieus zu zeigen", kann nun im Rahmen neuer Standortbestimmungen und Ausblicke jederzeit öffentlich fortgeführt werden.

      Astrid Näff