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Margaridas Brancas
    • Acryl auf Leinwand
    • Objektmass: 46 x 63 cm
    • Inv.-Nr. 3464
    • Eine leuchtend rote Fläche fängt den umherschweifenden Blick ein: In einem pulsierenden Wirbel versinkt dort ein rotes Dach in einem grünen Pflanzenmeer. "Margaridas Brancas" (1973), eine Malerei der afro-brasilianischen Künstlerin Maria Auxiliadora da Silva (1935–1974) zeigt ein Margeritenfeld und eine Hütte mit ringsum tanzenden Menschen. Die Darstellung der gräulichen Baracke mit rotem Ziegeldach ist mittig platziert. Leerstellen deuten Beschädigungen in der Holzfassade an. Nichtsdestotrotz erscheint die verlotterte Hütte nicht verlassen. Sie ist von einer Art Trampelpfad umgeben, der sich in Schwarz vom Bildgrund abhebt. In einem Reigen sind auf ihm 16 Figuren platziert. Neun von ihnen tragen Hosen mit Hemden, einige auch eine Kopfbedeckung wie eine Mütze oder ein Strohhut. Vereinzelt haben sie auch Rechen mit sich. Die anderen Figuren tragen wadenlange Kleider, einige mit dazu passenden Kopftüchern. Die karierten Kleidungsstücke in Weiss, Hellblau, Rosa oder Rot sind bei fast allen Tanzenden mit Flicken versehen. Ihre ganze Erscheinung lässt darauf deuten, dass es sich um Landarbeitende handelt. Die Szene ist fröhlich; so reicht beispielsweise ein Schwarzer Mann mit stechend grünen Augen einer weissen Frau mit zwei Zöpfen die Hand zum Tanz und scheint seinen Strohhut grinsend zum Gruss zu heben. Die hellgrünen Stängel der weiss-gelben Margeriten sind mannshoch und ihre Blüten sind teilweise grösser als die Köpfe der Figuren. Ein räumlicher Aufbau erschliesst sich letztlich nur aus der unterschiedlichen Grösse und der Platzierung der Figuren innerhalb des Bildes.

      Mit 17 Geschwistern wächst Auxiliadora in São Paulo in ärmlichen Verhältnissen auf. Mit zwölf Jahren bricht sie die Schule ab, beginnt als Haushälterin zu arbeiten und verdient durch den Verkauf ihrer Werke auf Strassenmärkten zusätzlich Geld. Erst mit 32 Jahren beschliesst sie ihr Leben der Kunst zu widmen. Sie zieht in die Künstlerstadt Embu das Artes, wo sie in einer losen Gruppe von Kunstschaffenden rund um den Musiker und Schriftsteller Solano Trindade (1908–1974) ihre Reliefmalerei weiterentwickelt. Um die Figuren auf ihren Leinwänden noch wahrheitsgetreuer zu gestalten, modelliert Auxiliadora nicht nur Körperteile mit pastosen dicken Farbschichten, darüber hinaus klebt sie oft sogar menschliches Haar – meist ihr eigenes – auf die Leinwand. Als Embu zunehmend zur touristischen Hippiekommune verkommt, zieht es sie zurück nach São Paulo. Dort lernt sie den in Recife geborenen Physiker und Kunstkritiker Mário Schenberg (1914–1990) sowie den Deutschen Geschäftsmann Werner Arnhold kennen. Die beiden machen sie mit Alan Fisher, dem US-Amerikanischen Konsul bekannt, der ihr 1970 zu ihrer ersten kleineren Einzelausstellung in der amerikanischen Botschaft verhilft. Arnhold verschafft ihr auch Zugang zu den Kunstmessen in Basel, Düsseldorf und Paris. Mit ihren Werken gibt Auxiliadora dem europäischen Kunstpublikum einen Einblick in eine sich vom westlichen Kunstkanon unabhängig entwickelnde Kunst. Ihre Werke sind geprägt von den typischen Widersprüchen zwischen urbanem und ländlichem Leben. Auxiliadora schreibt sich erst mit 37 Jahren an einer Schule ein und lernt dort lesen und schreiben. Ihre Bilder nutzt sie auch, um ihren Alltag beinahe tagebuchartig festzuhalten. Die dargestellten Szenen erzählen vom Zusammenleben der Kulturen und sind in ihrer einfachen Dichte am ehesten mit der typischen Volksliteratur in Brasilien, der Literatura de cordel, zu vergleichen. Auxiliadoras Malerei zeigt oft Szenen ritueller Tänze und Zusammenkünfte afro-brasilianischer Religionen. Die farbige und lebensfrohe Motivik ihrer Bildsprache weicht zum Ende ihres kurzen Lebens immer öfter auch existenzialistischen Themen: Sie malt Begräbnisszenen oder reflektiert ihr Dasein als an Krebs erkrankte Künstlerin. Mit 39 Jahren stirbt sie.

      "Margaridas Brancas" wurde vom ehemaligen Kunsthausdirektor Heiny Widmer (1927–1984) 1979 für die Sammlung des Aargauer Kunsthauses erworben. Mehrere Arbeiten der damals bereits verstorbenen Künstlerin hatte er zuvor 1978 unter dem Titel "Maria Auxiliadora. Eine brasilianische Naive im Aargauer Kunsthaus" gezeigt. Auxiliadora, die sich selbst nie als Vertreterin einer Naiven Kunst bezeichnet hat, ist heute vornehmlich in Brasilien bekannt. Dazu trug vor allem auch der damalige Gründer und Direktor des Museu de arte de São Paulo, Pietro Maria Bardi (1900–1999), bei. Indem sie die Werke der "Art Brut Outsider" in den Museumskontext überführten, erhofften sich viele Kuratierende, darunter eben auch Bardi oder Widmer, eine Auflösung der strengen Trennung zwischen high und low art. Entgegen der damaligen Kategorisierung als Naive erscheint Auxiliadoras Praxis trotzdem nicht gänzlich frei von Überlegungen zu Technik und Bildaufbau: Besonders ihre eigenen Ausführungen zur Perfektionierung der Reliefstruktur widersprechen dem rohen und triebhaften Duktus, der Vertretenden der Art Brut zugeschrieben wird. Die Wiederentdeckung der Künstlerin im Jahr 2018 durch die beiden MASP-Kuratoren Adriano Pedrosa und Fernando Oliva in der Ausstellung "Maria Auxiliadora: Vida cotidiana, Pintura e Resistência" berichtigte dann auch diese fragliche Kategorisierung. Stattdessen erscheint Auxiliadoras Werk heute als berauschendes Fest der eigenständigen Entwicklung einer vom eurozentristischen Blick unabhängigen Kunst.

      Bassma El Adisey, 2023